Ein Hinweis vorweg:
Nur weil in diesem Musical mit Puppen gespielt wird, ist das Musical noch lange nicht kinderfreundlich. Diese Erfahrung musste die Familie in der Reihe vor uns gestern Abend selber machen. Doch der Reihe nach.
Das Musical Avenue Q begeistert seit 2003 die Fans in den USA, und hat in den letzten Jahren auch den Weg in die deutschen Theater gefunden. Das Besondere an diesem Musical ist, dass hier nicht nur Menschen auf der Bühne stehen, sondern auch Puppen. Gut dreiviertel der gesamten Besetzung besteht aus solchen Puppen, doch je mehr man sich auf das Stück einlässt, desto stärker verwischt die Grenze zwischen Puppenspieler/Sänger und Puppe, und man nimmt die irgendwann nicht einmal mehr wahr.
Zur Story. Den Schulabsolventen Princeton (gespielt von Thomas Klotz) verschlägt es auf der Suche nach einer bezahlbaren Bleibe in die namensgebende Avenue Q, nachdem er (nach eigener Aussage) die Avenues A bis P schon abgeklappert hat, aber alles außerhalb seiner Preisklasse lag. Dort trifft er nicht nur auf den exzentrischen Hausmeister Daniel Küblböck (genial persifliert von Norbert Kohler), sondern auch auf die anderen Bewohner, die das Leben in diese Straße gespült hat: Nicky (Benedikt Ivo) und Rod (ebenfalls Thomas Klotz), die zusammen in einer WG leben, Brian (Martin Christoph Rönnebeck) und seine (zukünftige) Frau Christmas Eve (Anna Mari Takenaka), die – neben Hausmeister Küblböck – die einzigen Menschlichen Bewohner der Straße, und die beiden Monster Kate, die derzeit eine Ausbildung zur Kindergärtnerin macht (Seit Deutschlandpremiere dabei: Stefanie Köhm) und Trekkie Monster (ebenfalls Benedikt Ivo), der sich …. Sagen wir … im horizontalen Filmgewerbe offenbar sehr gut auskennt.
Und so schlagen sich die sehr unterschiedlichen Figuren durch das Leben, mit all seinen Facetten, und stolpern auch durch heikle Themen wie Rassismus, Pornografie, Perspektivlosigkeit und Homosexualität.
Aus diesem Grund ist das Musical offiziell erst ab 16 Jahren empfohlen, was oben erwähnte Familie offenbar überlesen oder ignoriert hat.
Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, dieses Musical zu beschreiben, denn die 2 ½ Stunden rauschen nur so an einem vorbei, jedes Stück, jede Melodie sitzt perfekt dort, wo sie hingehört, ohne dass man das Gefühl hat, das Musical wird unnötig in die Länge gezogen.
Das Bühnenbild steht dem US-amerikanischen Vorbild in nichts nach. Neben der Außenkulisse können einige Wohnungen der Bewohner wie bei einem Puppenhaus auch aufgeklappt werden. Der Großteil der Szenen spielt jedoch auf der Straße. Eine Videoprojektionsleinwand ergänzt das Spektakel und wird zwar sparsam, aber immer sehr effizient eingesetzt.
Zur Besetzung ist zu sagen, dass sich Fans des US-Musicals nur in einer Rolle umgewöhnen müssen. Die ursprünglich weiblich besetzte Hauptrolle des
Hausmeisters ist hier in Deutschland – wie aber auch in anderen Ländern – männlich besetzt. Ansonsten steht hier ein erfahrenes Musicalteam auf der Bühne, bei dem man das Gefühl hat, sie hätten schon jahrelang zusammen performt. Besonders beeindruckt waren wir von der unvorstellbaren Koordination der Schauspieler. In einigen Szenen werden die Puppen gleich von zwei Schauspielern zum Leben erweckt (etwa Trekkie Monster), oder aber die Bullshit-Bären, zwei niedlich aussehenden Teddybären, die vermutlich entfernt mit Ted verwandt sind. Gerade letztere werden eigentlich von der gleichen Schauspielerin (brillant: Katharina Schutza) gesprochen, jedoch nicht immer auch beide von ihr gespielt. In solchen Momenten übersteigt die unglaubliche Koordination zwischen Schutza und ihrem Partner Benedikt Ivo meine Vorstellungskraft, und ich frage mich, wie lange sie dafür wohl proben mussten, dass das so reibungslos läuft.
Doch auch der restliche Cast kann sich sehen lassen. Avenue Q-Veteranin Stefanie Köhm erweckt Kate Monster wunderbar zum Leben, und auch Hauptdarsteller Thomas Klotz versteht sich in jeder der zwei Hauptrollen, die er übernimmt, wunderbar zu präsentieren. Norbert Kohler spielt seine Rolle als Daniel Küblböck so authentisch, dass man manchmal das Gefühl hat, der Dschungelstar und DSDS-Dritte steht persönlich auf der Bühne. Eine Schauspielerin habe ich bisher aber unterschlagen. Michaela Duhme übernimmt in der Bielefelder Inszenierung die Rollen von Lucy D. Schlampe, einer anruchigen Jazzdiva, die immerzu auf Männerfang ist, und Lavinia Semmelmöse (ja, die heißt wirklich so), die Kindergartenleiterin und Kate Monsters Cheffin. Außerdem zeichnet sich Michaele Duhme auch als Choreografin verantwortlich.
Das Bühnenehepaar Martin Christoph Rönnebeck und Anna Mari Takenaka soll natürlich nicht unerwähnt bleiben. Hier ist den Produzenten aus meiner Sicht etwas Tolles gelungen, denn im Gegensatz zu anderen Produktionen wird hier die Rolle der japanischen Immigrantin Christmas Eve auch von einer Japanerin übernommen. Okay, deutsch-japanerin, denn Anna Mari Takenaka ist nahe Bremen geboren worden. Trotzdem bekommt sie den klischeehaften japanischen Akzent wunderbar hin.
Die Musik der deutschen Lokalisation ist – entgegen meiner Befürchtungen – absolut klasse umgesetzt worden. Nur hier und da mussten zwangsläufig ein paar Witze wegfallen, weil sie einfach im Deutschen nicht logisch gewesen wären (besonders bei „Schadenfreude“, man muss einem deutschen Publikum nicht erklären, dass Schadenfreude ein deutsches Wort ist). Roman Riklin hat glücklicherweise die Texte nicht ins deutsche 1:1 übersetzt, sondern sie übertragen, und das tut den Songs gut. Besonders bei den bekannten Songs „Schadenfreude“, „Das Internet ist für Pornos“ oder „Nur ein schmaler Grat“ merkt man ganz deutlich die Liebe, die Riklin in die Texte gesteckt hat. Jeder Reim sitzt, ohne aufgesetzt zu wirken. Ein weiterer Favorit ist „Jeder ist ein bisschen Rassistisch“.
Ich glaube, kein Song (verzeiht meine Wortwahl) scheißt so sehr auf politische Korrektheit wie dieser. Und auch er wurde nicht nur ins Deutsche, sondern in die heutige Zeit übertragen. Sogar Donald Trump hat einen kurzen Gastauftritt als „zukünftiger Ex-Präsident“. Und aus dem „Schwarzen“ im Bus in der Uraufführung ist in der Bielefelder Inszenierung ein Flüchtling geworden, was dem Thema „Rassismus“ in diesem Lied aber nur noch mehr aktuellen Zündstoff liefert.
Die musikalische Umsetzung der Band unter William Ward Murta kommt – zumindest in der Bielefelder Inszenierung – ohne großes Orchester aus. Nur eine Handvoll Musiker sorgen für den „guten Ton“, der Orchestergraben war noch nie so übersichtlich. Dass es trotzdem laut werden kann haben wir in Reihe 3 sitzend aber gemerkt, wir hatten das Gefühl, wir stehen, pardon, sitzen mittendrin im Geschehen.
Überhaupt hat man bei „Avenue Q“ das Gefühl, man sieht sich kein Theaterstück an, sondern schaut in den Spiegel. Den Spiegel der Gesellschaft nämlich, denn auch wenn das Stück eigentlich in New York spielt, könnte es genauso gut auch in Berlin-Neukölln oder Duisburg angesiedelt sein. Man kann sich so sehr mit den Figuren und ihren Lebensgeschichten identifizieren, dass man sich schon bald selbst als Bewohner der Avenue Q versteht.
Für alle, die zumindest für 2 ½ Stunden ihre gute Kinderstube vergessen wollen, und über Themen wie Rassismus oder Schwule lachen möchten, ohne dafür ins Kabarett zu gehen, sei dieses Musical wärmstens empfohlen. Beschweren Sie sich aber nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt. Und tun sie mir einen Gefallen: Lassen Sie ihren 10-jährigen Sohn zuhause. Denn wenn Erwachsene mit Puppen spielen, kommt meist nichts Jugendfreies dabei heraus.