26. Drehung

„Das ist doch nicht normal.“

Diesen Spruch höre ich ständig, wenn ich bei meinem Schwiegervater zu Besuch bin. Meist geht es um irgendetwas alltägliches, was  mir im Normalfall meistens nicht einmal mehr ein müdes Lächeln abringt.

Denn mal ehrlich, was ist schon ‚normal‘?

Unter diesem Wort findet man ja nicht einmal im Lexikon etwas! Doch, schon. Aber nur einen Verweis. Auf den Eintrag „Soziale Norm“. Darunter verstehen Akademiker „Erwartungen an das  Verhalten eines Individuums“.

Also entschuldigung, aber abgesehen davon, dass ich ungerne als Individuum bezeichnet werde (über ‚dick‘ lass ich ja noch mit mir reden, aber ‚Individuum‘ geht zu weit!), widerspricht sich diese Definition doch.

Denn wie wissen wir seit Monty Pythons „Leben des Brian“. Individuen sind „doch alle völlig verschieden.“ Und nun sollen die wieder alle über einen Kamm geschert werden? Ja, um das zu verstehen muss man studiert haben, anders kommt man an die bewusstseinserweiternden Substanzen nämlich gar nicht ran (zumindest nicht legal).

Ein anderes Beispiel sehe ich bei meiner kleinen Nichte. Die ist mittlerweile fast süße 3 Jahre alt. Wenn sie spricht, dann noch sehr undeutlich, und man muss schon hinhören, was sie von einem will. „Das kann nicht sein, normale Kinder in ihrem Alter sprechen schon viel mehr und viel deutlicher.“

Und im selben Atemzug heißt es dann „Naja, aber jedes Kind ist in der Entwicklung anders.“ Wieder wird eine Schablone irgendwo hingepappt, wo sie gar nichts zu suchen hat. Wer nicht in diese Schablone passt, ist nicht normal! Und was nicht normal ist, darf nicht sein, und muss korrigiert werden.

Nein, ich habe keine Lust, mich „korrigieren“ zu lassen. Ich möchte ich sein und auch bleiben.

Ich gebe mal ein Beispiel, was für mich vollkommen normal ist. Ich bin (schon fast seit meiner Geburt) Fan von japanischen Zeichentrickserien und Comics. Wieso nicht von westlichen Comics? Ich stehe halt nicht so auf muskelbepackte Kerle in hautengen Klamotten.

Nein, japanische Comics sind anders. Die Stories, die Zeichnungen, alles spricht mich einfach mehr an.

Als Fan solcher Serien kommt man irgendwann bewusst oder unbewusst mit anderen Fans in Kontakt. Fans, die sich etwas exzessiver mit den Serien beschäftigen. Damit meine ich nicht etwa den Cliché-Comic-Fan, der mindestens 20 Kilo zu viel auf den Rippen hat, unrasiert ist und außerdem nach Fast-Food strinkt (gibt’s die überhaupt noch?).

Ich spreche eher von der Sorte „Trekkie“. Wer nicht weiß, was das ist, dem erkläre ich das jetzt hier garantiert nicht. Das hier ist ein Blog und keine Wikipedia-Kopie. Ihr könnt ja googlen.

Diese Fans verleihen ihrer Liebe zu den Comics und Zeichentrickserien auf ganz besondere Art und Weise Ausdruck.  Sie sind geübt im Umgang mit der Nähmaschine und nähen sich die Kleidung ihrer Comichelden nach. Was dabei rauskommt, kann man jedes Jahr zu zehntausenden auf der Connichi in Kassel erleben. Dort trifft man auf alles, was bei japanischen Comics Rang und Namen hat. Son-Goku, Naruto, Ash Ketchum und Yugi, nur um mal ein paar Namen zu nennen, die man auch im Deutschen kennen könnte.

Ist das noch normal? Ja, für mich schon. Ich gehöre nämlich auch zu „denen“. Und ich bin stolz drauf! Ja, ich bin Stolz darauf, nicht normal zu sein. Und da bin ich nicht die einzige. Mein Mann gehört auch zu den Kostümbastlern, oder „Cosplayern“, wie der richtige Ausdruck lautet. Er ist sogar noch etwas härter drauf als ich. Wie war das noch? „…nähen sich die Kleidung ihrer Comichelden nach“

Tja, seine Helden sind weiblich. Er schlüpft also in Weiberklamotten! Stört mich das? Man gewöhnt sich dran, und dann ist es auch irgendwann „normal“. Er ist da übrigens nicht der einzige in der Szene. Auch ich habe schon männliche Charaktere dargestellt. Ach… ich vergaß… das ist ja „normal“.

Aber genau das ist es doch, oder? Jeden Tag begegnet uns „unnormales“, was wir einfach so hinnehmen. Männliche Altenpfleger, weibliche Automechaniker… das ist mittlerweile „gesellschaftlich akzepziert“. Jugendliche, die sich zum Komasaufen verabreden. Busfahrer, die an Bushaltestellen vorbeifahren, wenn dort niemand ein- oder aussteigen will.

„Das ist doch nicht normal!“

Doch, lieber Herr Schwiegervater, ist es. Genauso normal wie alles, was uns im Alltag begegnet. Denn Unnormal, gibt es nicht, wenn wir von Individuen sprechen. Und ein Individuum ist etwas einzigartiges. Und Wo Einzigartigkeit herrscht, gibt es keine „Normalität“, nur eine Mehrheit, die das gleiche tut.

Wenn dass bedeutet, dass das normal ist, dann bin ich lieber unnormal, aber glücklich und ich selbst.

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