Ich weiß, den Prolog habe ich schonmal gepostet. Aber ich finde, man kann ihn nicht oft genug lesen.
Prolog
Irgendwo in der Heepersenne, 1670
Das Atmen viel ihr schwer. Sie war so schnell wie möglich vom Linenbach hierhin gelaufen. Nur eine kleine Laterne wies ihr den Weg durch die dunkle Nacht. Sie betete inständig zum lieben Gott hinauf, dass sie keiner sehen würde. Doch heute war wahrscheinlich die letzte Chance, das zu tun, was sie sich so lange vorgenommen hatte. Die ersten Schritte hatte sie schon vor Wochen eingeleitet, als Hochwürden Georg ihr die Beichte abgenommen hatte. Sie überreichte ihm das kleine Büchlein, welches sie die letzten Jahre immer begleitet hatte. Immer wenn sie Feder und Tinte zu Verfügung hatte, schrieb sie hinein, damit alle Welt erfahren würde, was passiert war.
Sie hatte sich so sehr gewünscht, es einfach hinauszuschreien, ihr Ansehen wieder herzustellen und das zu bekommen, was ihr von Rechtswegen zustand. Doch sie hatte immer Angst gehabt, was ihre Geschichte auslösen würde. Und würde man ihr glauben? Die Männer waren so mächtig, und sie hatten schon einmal bewiesen, zu was sie im Stande waren. Warum sollte jemand an ihnen zweifeln? Und was wäre gewesen, hätte man ihr geglaubt? Das Leben hatte sich gerade wieder in geordnete Bahnen begeben.Sie hätte mit diesen Enthüllungen die ganze Welt der Menschen wieder erschüttern können, dass war ihr bewusst. Nach unruhigen Zeiten, die sie durchlebt hatten, wollte sie das nicht riskieren.
Und dennoch wollte sie, dass es die Menschheit erfahren würde. Sie wollte was hinterlassen, dass vielleicht kommende Generationen die Wahrheit erfahren würden und es in Zukunft besser machen konnten. Doch sie alleine war dazu nicht in der Lage. Sie konnte nur den Anstoß geben und Gott sollte ihr dabei helfen.
In der Ferne hörte sie ein Käuzchen. Der Kieferwald wurde hier über der Quelle des Linenbachs ein wenig lichter, sodass auch der volle Mond nun zur Unterstützung dazu kam, damit sie ihren Weg fand. Ihr Blick blieb immer auf dem Boden gerichtet. Der sandige Boden war von dem vielen Regen der letzten Tage sehr matschig und aufgequollen und sie wollte nicht riskieren über die dicken Wurzeln der Kiefern zu stürzen. Dann würde man morgen früh auf dem Hof sehen, dass sie sich herumgetrieben hatte. Das wollte sie ihren Zieheltern nicht antun.
Sie hatte Glück gehabt. Familie uf de Linen hatte sie wie ihr eigenes Kind großgezogen, nachdem sie ihre Eltern verloren hatte. Über das Unglück gesprochen hatten sie nie. Es hätte nur unnötige Wunden aufgerissen. Sie war damals sechs Jahre alt gewesen und hatte immer wieder Albträume von Blut und Babygeschrei. Lange Zeit zuckte sie bei Hufgeklapper zusammen und schaute sich ängstlich um. Doch das hatte sich mit der Zeit gelegt. Während ihre Ziehfamilie den Alltag auf dem Linenhof wiederfand, konnte sie die Ereignisse nie vergessen. Wie konnte sie auch. Sie alleine hatte alles mit angesehen und kannte die Wahrheit. Sie konnte sich noch gut erinnern, als sie mit ihrer Ziehmutter Amelie darüber sprechen wollte. Sie hatte sofort ab gewunken. Das wäre nur in ihrer Einbildung geschehen. Das Gericht hätte sich sicher nicht geirrt und sie solle aufpassen, was sie sagte, sonst würde sie der Teufel holen.
Als Kind verstand sie das alles nicht, mittlerweile war sie sich jedoch bewusst, warum Amelie sie immer ermahnt hatte, vorsichtig zu sein. Es gab Menschen, die sie lieber Tod sehen wollten. Wenn sie mitbekamen, dass sie noch lebte, dann wäre sie nicht mehr sicher.
Aber sie gewöhnte sich daran und lebte damit. In den Jahren hatte sie einen Plan gefasst. Sie wollte, dass die Menschheit ihre Wahrheit erfuhr. Sie schrieb alles nieder.
Jetzt musste ihre Familie umsiedeln. Der Linenhof blieb in ihrem Besitz und wurde von ihren Bediensteten und ihrem Bruder Theodor weiter bewirtschaftet. Ihr Ziehvater hatte nun eine hohe und angesagte Stellung beim großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Karl wollte auf jeden Fall seine ganze Familie mitnehmen. Amelie hatte zwar Bedenken geäußert, in so unmittelbarer Nähe des Kurfürsten und seiner Vertrauten zu sein. Anderseits waren mittlerweile zehn Jahre ins Land gegangen.
Sie freute sich auf Berlin, vielleicht würde ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Vielleicht würde jetzt endlich alles besser werden und sie konnte die Schatten der Vergangenheit hinter sich und ruhen lassen. Nur noch diesen einen Weg galt es zu bestehen.
Sie hatte das gut verschnürte Päckchen, welches sie bei ihrem alten Freund Alemann schon vor einer Woche abgeholt hatte, in ihren Lederbeutel getan, welches sie um den Hals trug. Obwohl der Inhalt nicht größer als ihre Hand war, wog es schwer und machte das Laufen beschwerlich.
Jetzt musste sie nur noch die Anhöhen hinauf, gleich hatte sie es geschafft. Hier gab es keinen Weg mehr, sie musste sich durch die Böschung schlagen. Der Mond war schon wieder hinter den Wolken verschwunden und der Wind frischte auf. Sie hoffte, dass es nicht schon wieder regnen würde. Aber um diese Jahreszeit war das Wetter immer sehr unbeständig, und wenn sich einmal die Regenwolken versammelt hatten, dann blieben sie auch erst einmal hartnäckig da.
Endlich kam sie an die kleine Lichtung. Da standen die zwei Steine. Der Mond lugte noch ein letztes Mal hell vom Nachthimmel und die Steine standen groß und dunkel vor hier. Überall hörte sie kleine Ästchen knacken, die schon trockenen Herbstblätter raschelten im Wind. Ihre Öllampe machte nur ein winziges Licht und die Szenerie wirkte noch unheimlicher.
Welcher Geist hatte sie bitte so handeln lassen? Sie schluckte hart. Aber sie musste es tun. Für sich selber und ihren Seelenfrieden, für die Lebenden und auch für die Toten.
Sie kniete sich vor den linken Stein, auf dem sie einen wohl bekannten Namen lesen konnte. Wie lange hatte sie den schon nicht mehr gehört. Es kam ihr vor, als würde der Herbstwind eine weibliche Stimme zu ihr herüber wehen, die den Namen wisperte. Sie bekam eine Gänsehaut. Es war was anderes, hier am Tage herzukommen, an dem man alles sehen konnte. Im Dunkeln schnürte es ihr die Kehle zu. Aber sie ließ nicht beirren. Was sollte ihr schon geschehen?
Ihre Hände zitterten, und trotz der Kälte fing sie direkt am Stein an zu graben. Wo war es nur, das Loch? Alemann hatte ihr zwar beschrieben, wo er es im Stein gehauen hatte, aber in den letzten Monaten hatte die Natur das Loch fest bedeckt. Sie grub noch ein wenig tiefer und fand schließlich die Aussparung am Stein.
Vorsichtig öffnete sie den Lederbeutel und zog eine kleine steinerne Platte heraus. Sie sah aus wie eine Miniatur des großen Steines vor dem sie kniete. Sie schob die Platte in die Aussparung des großen Steins. Die Lampe, die sie neben sich gestellt hatte, erleuchtete nur wenig das Loch. So gut es ging begrub sie alles wieder mit Erde.
Sie stand auf, klopfte sich den Dreck aus ihrer Hose und flüsterte in den Nachthimmel:
„Das ist für dich, mein geliebter Vater.“Ein Regentropfen traf sie mitten ins Gesicht. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein. Es konnte doch nicht schon wieder beginnen zu regnen.
So schnell sie ihre Füße trugen rannte sie zurück zum Linenhof, doch der Regen durchnässte sie völlig. Die Nadelbäume boten einfach keinen Schutz.
Als sie in den Stall kam, in dem sie vorsorglich frische Kleidung gelegt hatte, empfing sie Amelie und leuchtete ihr mit einer Laterne direkt ins Gesicht.
„Was hast du getan, Ludwig? Schnell, zieh dich um, es muss ja keiner mitbekommen!“
Sie gab ihrer Mutter die nassen Sachen und schlüpfte in die trockene Hose. Ludwig würde nun ins Bett gehen.